Zur der Ausstellung „Sphären“ in der Galerie Gerde Türke, Dortmund

Ein Blick aus dem Atelierfenster eröffnet einen großen Himmel, der sich über den Turmspitzen und Hochhäusern der Stadt wölbt. Gegenüber der Berliner Dom. Unten auf dem Fluss ziehen die munteren Ausflugsschiffchen und schweren Lastkähne ihre Bahnen. Wir befinden uns in einer Gegend, die auch der Schmelztiegel der deutschen Vereinigung genannt wird, und in der Wiedersprüche, Aufbruch und Niedergang, tausendfach nebeneinander stehen. Noch ist nichts endgültig. Noch ist das Stadtbild unfertig.
Die rasante Atmosphäre der Stadt hat die 1994 aus Dortmund kommende Malerin Birgit Borggrebe angezogen und inspiriert. Sie erfühlt genau die Zeichen des Übergangs – des eigenen und des geschichtlichen in Parallelität – und ergründet dies Schicht für Schicht in ihrer Malerei. So sind die Bilder aus dem hier vorliegenden Sphärenzyklus auch historische Zeugnisse – für die Gefühle der Menschen in einer Zeit der Doppeldeutigkeiten: Abschied und Neubeginn, Vermischung und Getrenntsein, Anziehung und Abstoßung.

Manchmal, vielleicht in dem Augenblick zwischen Schlafen und Erwachen, passiert uns das. Über Traumsequenzen schieben sich verschwommene Ahnungen von Realität, wie wir sie nennen. Die Schichten schmelzen ineinander, um mit dem Einbruch des Tages wieder getrennt und sauber in die erlernte Bedeutung eingeordnet zu werden.
Birgit Borggrebe führt uns in die Sphäre zwischen den Bildern, die wir gelernt haben zu erwarten und den gefühlten, die sich manchmal so gar nicht mit dem decken, was wir Wirklichkeit nennen. Ihre Bilder sind eine Brücke in einen menschlichen Bereich, der uns zwar beeinflusst, an den wir aber nicht sonderlich oft denken oder gar herankommen. Beim Sehen und Sich Hingeben beginnt ein Dialog zwischen dem Unbewussten der Künstlerin und unserem eigenen Unbewussten. Wir tun einen Blick in Sphären, die man vielleicht Seelenlandschaften nennen könnte. Hineinschauend glauben wir ihr zu begegnen. Und begegnen uns selbst dabei.

In unverwechselbarer Weise nutzt und mischt Birgit Borggrebe Techniken und Herangehensweisen. Sie überprüft, verwirft, arbeitet um und weiter. Im Schaffensprozess nähert sie sich beharrlich ihrer inneren Wirklichkeit. Aus der Übereinstimmung – ohne Kompromisse, ohne harmonisierende Verschleierungen – gewinnen die Bilder ihre suggestive Kraft, mit der sie uns zu ihren Begleitern in diese Sphären werden lässt.

Tiefe und Raum entstehen im Schichten der Farben in mehrere Ebenen und dem Hervorholen älterer Schichten. Manchmal haben wir den Eindruck, ein Vorhang sei weg gezogen worden, oder wir würden durch eine Öffnung in ein anderes Land schauen. In „Septembermorgentäuschung“ etwa geht durch eine Lücke im Vordergrund ein neuer Raum auf, eine zweite Welt erscheint hinter der ersten. Und durch die Öffnungen dieser Welt sehen wir eine weitere und noch tiefere Dimension.
Häufig gibt es ein Verwischen von Linien, Bewegung entsteht im Bild, es ist, als würden die Landschaften an uns vorbeiziehen, während sie doch stehen. Ein Ankommen an einem Ort, der noch nicht vertraut ist, die Bewegung des Blicks, mit dem die Kommenden sich hineinsehen, ist fühlbar. Ganz deutlich auch benannt findet sich dies in „Fremde Erden“.
Mit dem Hervorholen von Körpern aus dem Bild benutzt Birgit Borggrebe ein weiteres wesentliches Element. Diese Körper sind von einer enormen Plastizität. In dem Diptychon „Schneemorgenlicht“ gibt es einen dunklen Quader mit einem weiteren Innenraum. Weiße Bälle scheinen in „Perlenfarben“ und „Die Monde“ durch die Gegend zu fliegen. Körper sind es, die im noch oder schon Verwischten stehen wie die Dinge, an denen wir nicht vorbeikommen, die wir lieben oder deren Dasein Grenzen andeutet, Markierungen setzt, die sich nicht wegwischen lassen, sondern allenfalls langsam erodieren. Sie entfalten ihre eigene Bewegung, ihr eigenes Sein. So entwickelt die Künstlerin auch eine zeitliche Dimension. Es sind Zeiten, die sich nebeneinander in unterschiedlichen Altern und Entwicklungsprozessen vollziehen.
Auch im Umgang mit Farben entwickelt sich Dynamik. Die Malerin benutzt ihre unterschiedlichen Charaktere, um fühlbare Gegensätze zu schaffen und sie wieder zu glätten – da gibt es etwa brennendes Rot, ein glühendes Gelb, die milderen Pastelle, viele, viele Grauweiß-Stufungen und schließlich bedeutsam tiefes Schwarz. So schafft sie gekonnt Harmonien im Gegensätzlichen und scheint keinerlei Angst davor zu haben, die Kräfte der Farben zum Tanzen und wieder zum Stehen zu bringen. Damit entsteht eine Spannung im Bild, die nicht wieder loslässt.
Dazu kommt schließlich ein meisterhafter Umgang mit Licht, das aus den Tiefen der Schichten zu quellen scheint oder auch sich über die Szene ergießt. So stehen glühende Lavablöcke in „Zerfrorene Zeit“ inmitten einer frostig gleißenden Landschaft – Licht und Energien klirren aneinander und schaffen eine beinahe schon schmerzende Intensität.
Grafische Elemente sind im Sphären-Zyklus sehr zurückgedrängt und werden hier wissend und sensibel, oft auch humorvoll als Zeichen gesetzt: Dann und wann erscheint einmal ein Nordpfeil, ein paar Zahlen – vielleicht als Erinnerung an den Beruf der Architektin, den Birgit Borggrebe vor ihrem künstlerischen Beginn ausgeübt hat.
Formeln und Schrift symbolisieren mehr eine Suche nach Sinn und Wirklichkeit als dass sie aufklären. In „Korallenmund“ erscheinen Worte von Da Vinci: „Wie werden Steine geboren?“, eine geradezu exemplarische Frage für das Werk der Künstlerin, die Werden und Vergehen so einsichtsvoll in Szenen setzt. „Ist der Mond aus Kristall?“, fragt sie einmal, in einer Szene, in der das Licht wie aus kristallinen Schichten sich scheinbar selbst erschafft und die Schrift selbst in vieldeutigen Brechungen darin steht.
Ab und zu benutzt sie auch freiere grafische Elemente voller bildhaftem Witz : der Mund der Wüstenblume zum Beispiel, der gierig zu lächeln scheint, wie es Wüstenblumen nun einmal tun müssen, oder die ornamentale Kuppelpracht, die an Brüste erinnert, in „Julinacht“. Die dahinter stehende fröhliche Ironie ist in vielen Details erkennbar und gibt dem gesamten Werk Anmut und ein frisches Lachen inmitten ernster Gestik.

Bilder stehen in der Zeit und verändern sich stets mit dem Betrachter. Dass wir uns als Betrachter selbst verändern, können wir jeden Tag neu erleben, wenn wir Bildern von Birgit Borggrebe wieder begegnen. In zauberhafter Weise wird der Dialog mit ihnen ein Dialog mit den eigenen Seelenkräften und Sichten. Nie gleicht das Bild, das wir zu kennen glaubten, dem gestern noch Gesehenen. Allenfalls erinnert es an das von Vorvorgestern. Wenn wir auch nur eines von ihnen besitzen, erfahren wir im Fluss der Zeit den Zugang zu uns selbst und erleben sehend das immerwährende Spiel der vielen Möglichkeiten, an dem wir selbst auf diese Weise Anteil haben. Es ist ein Spiegel, und es kann werden wie ein Gefährte. Solch ein Gefährte wird uns – auch in den heutigen Prozessen globaler Verschnellerung und Entgrenzung mit den häufig dazu gehörenden Gefühlen von Ohnmacht gegenüber dem raschen Zerfließen der Werte und Sicherheiten – daran erinnern, dass das Leben ein Prozess ist, an den wir uns hingeben müssen. In einer Zeit der Doppeldeutigkeiten können wir solchen Umgang brauchen. Mit ihren fröhlich-spielerischen und den ernst fragenden Blicken, mit den romantisch vieldeutigen Worten der Titel und vor allem mit ihren Bildern von strahlender Kraft und Tiefe baut Birgit Borggrebe uns Brücken für den Übergang.

Auszüge der Rede zur Ausstellung Sphären von Dr. Irina Mohr, Berlin, 2000